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Ein Maturabeispiel?

22.5.2025 – Selbst bei vermeintlich einfachen Rechenaufgaben gilt: Nicht aus der Hüfte schießen! Darauf macht Versicherungsmathematiker Christoph Krischanitz aufmerksam.

Angenommen, ein Zug fährt von A nach B und braucht dafür eine Stunde.

Fühlen Sie sich jetzt wie bei der Matura? Warten Sie ab.

Genau in der Mitte der Strecke (die übrigens schnurgerade verläuft und keine Auffälligkeiten hat) steht eine Messstation, die misst, wie lange der Zug von A weg gebraucht hat. Üblicherweise würde man hier also 30 Minuten erwarten. Nun, eines Tages, wird an der Messstation 40 Minuten angezeigt! Der Zug hat also bisher 10 Minuten Verspätung eingefahren.

Nun die Gretchenfrage: Wann (bzw. mit wieviel Verspätung) wird der Zug sein Endziel (also den Punkt B) erreichen?

Eine Aufgabe für die Matura?

Halten Sie diese Aufgabenstellung für maturawürdig?

Einige von Ihnen werden jetzt sagen: natürlich nicht, die Aufgabe ist viel zu leicht! 40 Minuten mal zwei ist 80 Minuten, daher hat der Zug 20 Minuten Verspätung! Sind Sie auch dieser Meinung?

Ich gebe Ihnen so weit recht, dass auch ich diese Aufgabe für nicht maturawürdig halte. Aber nicht, weil sie zu leicht ist, sondern zu schwer. Um nicht zu sagen: unlösbar!

Zu schnell gerechnet

Viele von uns haben so einen Rechenreflex. Die Aufgabe wird betrachtet und sofort kommt die Antwort wie aus der Pistole geschossen. In Vorstandssitzungen oder anderen Führungskräfte-Meetings ist das oft zu beobachten. Man hat keine Zeit, um sich die Frage genau anzusehen und zu hinterfragen. Schnelle Entscheidungen müssen her. Oft sind es dann aber die falschen.

Schnelle Entscheidungen sind meist problematisch, weil die Frage schlecht gestellt ist oder wie in unserem Fall wesentliche Informationen vorenthält.

Das passiert übrigens auch Mathematikern. Im Eifer des Gefechts werden Modelle entwickelt, Daten extrapoliert, Ergebnisse zusammengezählt, ohne zu hinterfragen, was eigentlich der Kern des Problems ist.

Schnelle Problemlösung ist meist keine Problemlösung, weil ein Problem gelöst wurde, das gar nicht vorhanden war, während das eigentliche Problem unentdeckt bleibt.

Starke Analogie zur Schadenabwicklung

Christoph Krischanitz (Bild: Krischanitz)
Der Autor: Versicherungsmathematiker
Christoph Krischanitz (Bild: Krischanitz)

Nun, unser obiges Beispiel ist ja sowieso realitätsfremd, werden Sie jetzt sagen. Erstens gibt es die Orte A und B nicht, und keine Strecke dieser Welt ist so gleichmäßig gestaltet, dass jeder Teilabschnitt 100 Prozent homogen ist. Das stimmt. Dieses Beispiel kommt in der freien Natur so nicht vor.

Aber es ist ein vereinfachtes Gedankenmodell. Aktuare verwenden es (zumindest, wenn Sie meine Vorlesung gehört haben).

Das Beispiel hat eine starke Analogie zur Abwicklung eines Versicherungsschadens. Der Zug steht für einen Schaden, der gemeldet wird, in Punkt A beginnt die Abwicklung. Der Schadenreferent hat eine Erwartungshaltung über eine gewisse Schadenhöhe bei Endabwicklung im Punkt B, nämlich „eine Stunde“.

Nun ist aber Bilanzstichtag (an der Messstation) und der aktuelle Schadenstand weicht von der ursprünglichen Erwartungshaltung ab. Wie hoch wird der Schaden nun sein, wenn ich die neue Information aus dem aktuellen Schadenstand berücksichtige?

Sagen Sie nun immer noch, das ist so einfach? Oder sagen Sie: „Na Moment, das kommt darauf an!“

Fortschreibung in die Zukunft …

Und damit haben Sie vollkommen recht. Es kommt darauf an! Und worauf kommt es an?

Kehren wir zu unserem Zug zurück. Es kommt darauf an, warum der Zug diese Verspätung aufgerissen hat, und es kommt darauf an, ob er die Möglichkeit hat, diese wieder aufzuholen.

Wenn diese Verzögerung zum Beispiel daher rührt, dass der Zug zu voll beladen ist oder einen technischen Fehler hat oder ein extremer Gegenwind herrscht oder ein anderer Grund vorliegt, der permanent auf die Fahrt einwirkt, dann wird sich die Verspätung vermutlich fortsetzen und annähernd verdoppeln. Dann stimmen die 80 Minuten bzw. die 20 Minuten Verspätung am Ende der Strecke.

Diese Art zu denken, wird in der Schadenabwicklung von Aktuaren übrigens Chain-Ladder-Verfahren genannt. Die Historie wird in die Zukunft fortgeschrieben.

… vorweggenommener Verlust …

Es könnte aber sein, dass der Zug nur kurz einmal stoppen musste (einem Fahrgast war schlecht, etwas ist auf den Schienen gelegen, ein kurzzeitiger technischer Fehler, oder was auch immer), und da der Zug fahrplanmäßig ja nicht mit Höchstgeschwindigkeit fährt, kann er nun „Gas geben“ und die Verspätung wieder aufholen. Dann kommt der Zug pünktlich an und es gibt keine Verspätung.

Aktuare nennen das das „Expected Loss“-Verfahren. Bei diesem Verfahren ist nicht viel Rechenaufwand nötig. Zukünftige Verluste wurden im Schaden schon vorweggenommen.

… oder etwas dazwischen

Und wie immer gibt es zwischen diesen beiden extremen Lösungswegen auch einen goldenen Mittelweg.

Der Zug wurde kurzfristig aufgehalten, aber aufgrund der Streckenbeschaffenheit oder der technischen Möglichkeiten der Lokomotive kann er die Zeit zwar nicht aufholen, aber zumindest für den zweiten Streckenabschnitt die fahrplanmäßige Geschwindigkeit wiederherstellen, und die Verspätung bleibt bei 10 Minuten.

Dieses Verfahren nennen die Aktuare bei der Schadenabwicklung „Bornhuetter-Ferguson“-Verfahren. Die Zukunft ist hier von der Vergangenheit „unabhängig“.

Die Warum-Frage stellen

Und damit ist klar, dass eine Aufgabe wie die eingangs gestellte nicht ausreichend formuliert ist, um sie ohne weiteres zu lösen.

Um das richtige Rechenmodell auszuwählen, muss man genau die oben erwähnte Warum-Frage stellen. Viele tun das nicht. Das zeigt auch die Dominanz des Chain-Ladder-Verfahrens in der aktuariellen Schadenbewertung. Weil es instinktiv jedem einleuchtet – wir haben das ja eingangs auch gesehen.

Mein Appell an dieser Stelle ist klar. Vermeiden Sie vorschnelles Rechnen, hinterfragen Sie die Aufgabenstellung und ob Ihnen klar ist, warum das Problem auftritt. Dann können Sie immer noch rechnen, oder Sie fragen den Aktuar Ihres Vertrauens.

Christoph Krischanitz

Der Autor ist Versicherungsmathematiker (profi-aktuar.at) und verfügt über langjährige Erfahrung in der aktuariellen Beratung. Krischanitz war von 2004 bis 2019 Vorsitzender des Mathematisch-Statistischen Komitees im Versicherungsverband (VVO), von 2008 bis 2014 Präsident der Aktuarvereinigung Österreichs (AVÖ). Derzeit ist er unter anderem Chairman der Arbeitsgruppe Non-Life Insurance in der Actuarial Association of Europe (AAE).

Serie „Statistik verstehen“ – bisher erschienen
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