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Nicht angegurtet: OGH kippt Klausel in Unfallversicherung

2.6.2025 – Nach einem Autounfall, bei dem er als Beifahrer nicht angegurtet war, ist ein Versicherungsnehmer zu 100 Prozent invalid. Der OGH entschied: Die Klausel, wonach bei Nichtanlegen eines Sicherheitsgurts Leistungsfreiheit besteht, ist ungültig, da diese selbst bei Erbringen eines Kausalitätsgegenbeweises eine Leistungskürzung um 25 Prozent vorsieht. Der Versicherer muss 300.000 Euro zahlen.

Bild: Tingey Injury Law Firm
Bild: Tingey Injury Law Firm

M.N. war im Jahr 2020 bei einem Verkehrsunfall auf einem sehr steilen, privaten Holzbringungsweg, der nur von speziellen Fahrzeugen befahren werden kann, als nicht angegurteter Beifahrer eines Pkw schwer verletzt worden. Aufgrund des Unfalls besteht Dauerinvalidität im Ausmaß von 100 Prozent.

Ob M.N. überhaupt verletzt worden wäre und inwieweit Dauerinvalidität aufgetreten wäre, wenn er ordnungsgemäß angegurtet gewesen wäre, kann nicht festgestellt werden. Von seinem Unfallversicherer fordert er aufgrund der eingetretenen Invalidität eine Zahlung von 300.000 Euro.

Der Versicherer lehnt eine Zahlung ab, da M.N. beim Unfall nicht angegurtet war; bei Anlegen eines Gurtes hätte er keine Verletzungen erlitten. M.N. reichte daraufhin Klage ein.

Bedingungslage

M.N. verfügt über einen Unfallversicherungsvertrag, vereinbart sind die Allgemeinen Unfallversicherungsbedingungen (AUVB) 2016 sowie Besondere Bedingungen zu dauernder Invalidität, wonach bei einem Invaliditätsgrad von 100 Prozent die Leistung 300 Prozent beträgt.

Artikel 21.1.3 der AUVB zählt zu den Obliegenheiten, dass die versicherte Person bei Benützung eines Kraftfahrzeugs einen Sicherheitsgurt anlegen muss, wenn dies gesetzlich vorgeschrieben ist. Dies gilt auch, wenn das Fahrzeug nicht auf Straßen mit öffentlichem Verkehr benutzt wird.

Im zweiten Satz desselben Artikels wird definiert, dass bei Nichteinhaltung dieser Verpflichtung sämtliche vereinbarten Versicherungsleistungen im kausalen Ausmaß, „jedoch um mindestens 25 %“ gekürzt werden.

Nach Aufzählung der Obliegenheiten regelt Artikel 21.1 die Vereinbarung einer Leistungsfreiheit, wenn der Versicherungsnehmer eine der Obliegenheiten verletzt. Dabei wird darauf hingewiesen, dass die Voraussetzungen und Begrenzungen der Leistungsfreiheit in § 6 Absatz 1 VersVG gesetzlich geregelt sind.

Vorinstanzen weisen Klage ab

Erst- und Berufungsgericht wiesen die Klage ab. M.N. habe seine Obliegenheit nach Artikel 2.1.3 der AUVB verletzt, was auch kausal für die beim Unfall erlittenen Verletzungen gewesen sei. Einen Kausalitätsgegenbeweis habe er nicht erbringen können.

Das Berufungsgericht erklärte, die Anordnung einer kausalitätsunabhängigen Mindestkürzung sei klar trennbar von der generellen Vereinbarung der Leistungsfreiheit im Sinn des § 6 VersVG. Die Klausel sei weder überraschend im Sinn des § 864a ABGB noch gröblich benachteiligend.

Selbst wenn die Bestimmung über die Mindestkürzung unwirksam wäre, bedeute dies nicht die Unwirksamkeit der für den Fall einer Obliegenheitsverletzung vereinbarten Leistungsfreiheit. Die Klausel könne unabhängig von zweiten Satz des Artikels 21.1.3 bestehen und isoliert wahrgenommen werden.

Zum Kausalitätsgegenbeweis

M.N. legte daraufhin Revision beim Obersten Gerichtshof ein. Er argumentiert, die Bestimmung des Artikels 21.1.3 AUVB sei unwirksam, weil sie gegen den § 6 Absatz 2 VersVG verstoße und nach § 864a ABGB überraschend sei.

In seiner rechtlichen Beurteilung erklärt der OGH, dass sich ein Versicherer nach § 6 Absatz 2 VersVG nicht auf seine Leistungsfreiheit berufen könne, wenn die Verletzung einer Obliegenheit keinen Einfluss auf den Eintritt des Versicherungsfalles oder den Umfang der Leistung hatte.

Damit werde dem Versicherungsnehmer der Kausalitätsgegenbeweis eröffnet. Er müsse beweisen, dass Eintritt und Umfang des Versicherungsfalles nicht auf der erhöhten Gefahrenlage beruhten, die typischerweise durch die Obliegenheitsverletzung entstehen.

Gemäß § 15a Absatz 1 VersVG sei der § 6 Absatz 2 VersVG einseitig zwingend zu Gunsten des Versicherungsnehmers, betont der OGH. Eine geltungserhaltende Reduktion einer einzelnen eigenständigen Klausel sei auch im Individualprozess über ein Verbrauchergeschäft nicht zulässig.

Zum Aufbau der Bedingungen

In den hier zu beurteilenden AUVB regle Artikel 21.1 mehrere Obliegenheiten vor Eintritt des Versicherungsfalles, darunter Artikel 21.1.3 die Verpflichtung zum Anlegen eines Sicherheitsgurts bei Benützung eines Kraftfahrzeugs.

Laut dem zweiten Satz dieses Artikels werden bei Nichteinhaltung der gesetzlichen Verpflichtung sämtliche vereinbarten Versicherungsleistungen im kausalen Ausmaß gekürzt, jedoch um mindestens 25 Prozent, so der OGH.

Im Anschluss an die einzelnen Obliegenheiten enthalte Art 21.1 AUVB eine allgemeine Regelung über die Vereinbarung der Leistungsfreiheit mit dem Hinweis, dass die Voraussetzungen und Begrenzungen der Leistungsfreiheit gesetzlich geregelt sind, und den Verweis auf § 6 Abs 1 VersVG.

25-Prozent-Kürzung ist unzulässig

Ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer werde davon ausgehen, dass der Abschlusssatz grundsätzlich die Folgen der Verletzung der davor genannten Obliegenheiten allgemein regelt.

Die Regelung der mindestens 25-prozentigen Kürzung bei Nichtanlegen eines Sicherheitsgurtes werde er gegenüber der allgemeinen Regelung als speziellere und die Rechtsfolgen der genannten Obliegenheitsverletzung abschließend regelnde Bestimmung verstehen, so der OGH.

Daher werde er die allgemeine Regelung am Ende der Klausel als nicht relevant für die Verletzung der konkreten Obliegenheit ansehen.

Die Leistungskürzung um jedenfalls 25 Prozent widerspreche aber der einseitig zu Gunsten des Versicherungsnehmers zwingenden Bestimmung des § 6 Absatz 2 VersVG. Sie sei damit unzulässig und ungültig nach § 864a ABGB.

Keine eigenständige Klausel

Ob eine Klausel eigenständig im Sinne des § 6 KSchG ist, hänge davon ab, ob ein materiell eigenständiger Regelungsbereich vorliegt, die Bestimmungen also isoliert voneinander wahrgenommen werden können.

Die Annahme von zwei Regelungen setze daher voraus, dass der Verbraucher erkennen kann, dass zwei unterschiedliche Fragen einer Vereinbarung unterworfen werden sollen. Beide Regelungen müssen dabei für sich allein verständlich sein und einen eigenen, anderen Regelungsinhalt haben.

Im vorliegenden Fall werde der Versicherungsnehmer die Wortfolge „jedoch um mindestens 25 %“ nicht als Regelung mit eigenem Regelungsinhalt, sondern als Einschränkung des davor vorgesehenen Kausalitätsgegenbeweises verstehen. Die Klausel könne daher nicht isoliert betrachtet werden.

Die Revision erwies sich daher als berechtigt, der Versicherer muss dem Versicherungsnehmer einen Betrag von 300.000 Euro samt Zinsen ab 2.12.2020 bezahlen.

Die Entscheidung im Volltext

Die OGH-Entscheidung 7Ob27/25h vom 22. April 2025 ist im Rechtsinformationssystem des Bundes im vollen Wortlaut abrufbar.

Schlagwörter zu diesem Artikel
Invalidität · Pkw
 
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