10.11.2023 – Der Oberste Gerichtshof stellte fest: Wenn ein Versicherter Berufsschutz genießt, darf er nur auf eine Tätigkeit verwiesen werden, durch die dieser Berufsschutz erhalten bleibt. Es sei damit zuerst zu klären, ob der Berufskraftfahrer durch die zuletzt ausgeübte Tätigkeit den Berufsschutz behielt; anschließend, ob dies auch auf die ihm nun zumutbaren Tätigkeiten zutrifft.
Aufgrund bestehender physischer und psychischer Beschwerden ist es einem 1963 geborenen Berufskraftfahrer nur mehr möglich, einen Pkw oder Lkw täglich maximal vier Stunden lang zu lenken.
Zu seinem Lehrberuf artverwandte Tätigkeiten wie die eines Lkw-Fahrers ohne Be- und Entladetätigkeiten in der Baubranche, eines Zustellers im Apothekendienst oder eines Dienstkraftwagenfahrers sowie Tätigkeiten als Hilfskraft, Bürogehilfe oder Tagportier kann er ausüben.
Er hatte 1991 eine Lehre als Berufskraftfahrer abgeschlossen und war danach einige Jahre als Busfahrer im internationalen Personentransport tätig. In den 15 Jahren vor dem Stichtag 1. November 2020 war er von 2005 bis 2006 etwas mehr als ein Jahr als Hilfsarbeiter beschäftigt.
Anschließend arbeitete er bis Ende 2019 als Lkw-Fahrer bei der Müllabfuhr für zwei verschiedene Dienstgeber, von 1. November 2020 bis Ende November 2021 bezog er eine befristete Invaliditätspension.
Seinen Antrag auf Weitergewährung der Invaliditätspension hat die Pensionsversicherungsanstalt abgewiesen und erklärt, dass er keinen Anspruch auf Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation habe.
In einer Klage fordert er die Gewährung einer Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß über den 3. November 2021 hinaus; als gelernter Berufskraftfahrer genieße er Berufsschutz, könne aber diese Tätigkeit aufgrund gesundheitlicher Einschränkungen nicht mehr ausüben.
Erst- und Berufungsgericht wiesen die Klage ab. Das Erstgericht hat dazu festgestellt, dass der Berufsschutz durch die Tätigkeit bei der Müllabfuhr nicht erhalten blieb und er eine Reihe von Tätigkeiten ausüben könne, für die es ausreichend offene Stellen gebe.
Das Berufungsgericht erklärte dagegen, dass der Berufsschutz durch die Tätigkeit als Lkw-Fahrer ohne Be- und Entladetätigkeit in der Baubranche sowieso erhalten bleibt. Ob durch die Tätigkeit bei Entsorgungsbetrieben der Berufsschutz erhalten blieb, ließ das Berufungsgericht unbehandelt.
Der Berufskraftfahrer wandte sich daraufhin in einer außerordentlichen Revision an den Obersten Gerichtshof. Er argumentiert, dass sich aus dem bisher festgestellten Sachverhalt nicht beurteilen lasse, ob die Verweisungstätigkeit des Lkw-Fahrers ohne Be- und Entladetätigkeit berufsschutzerhaltend wäre.
Daher hätte sich das Berufungsgericht mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob ihm aufgrund seiner bisherigen Tätigkeit in einem Entsorgungsunternehmen Berufsschutz in seinem erlernten Beruf als Berufskraftfahrer zukomme.
Dazu erklärt der OGH, dass ein einmal erworbener Berufsschutz dann erhalten bleibt, wenn die im zu beurteilenden Zeitraum ausgeübte Tätigkeit in ihrer Gesamtheit noch als Ausübung des erlernten Berufs anzusehen ist.
Dazu müssten zumindest quantitativ und qualitativ nicht ganz unbedeutende Tätigkeiten des erlernten Berufs ausgeübt werden. Entscheidend sei, ob ein Kernbereich der Ausbildung auch bei der Ausübung der Teiltätigkeit oder spezialisierten Tätigkeit verwertet werden muss.
Wenn ein Versicherter Berufsschutz genießt, dann dürfe er nicht auf einen Beruf verwiesen werden, durch dessen Ausübung er den Berufsschutz verlieren würde, betont der OGH. Die Tätigkeit, auf die er verwiesen werden soll, müsse daher noch als Ausübung des erlernten Berufs anzusehen sein.
Bestehe allerdings kein Berufsschutz, so könne ein Versicherter auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verwiesen werden. Es komme daher bei der Frage, welches Verweisungsfeld konkret in Betracht kommt, darauf an, ob ein Versicherter Berufsschutz genießt.
Diese Frage habe das Berufungsgericht nicht behandelt. Das würde zwar dann keine Rolle spielen, wenn die Tätigkeit eines Lkw-Fahrers ohne Be- und Entladetätigkeit in der Baubranche den Berufsschutz erhalten würde. Das treffe aber nicht zu.
Eine Tätigkeit als Zustellfahrer, Fahrer eines Dienstpersonenkraftwagens oder als Direktionschauffeur sei nur dann berufsschutzerhaltend, wenn sie sich qualitativ deutlich von Hilfsarbeiten unterscheidet. Wesentlich sei dabei die Dauer der Anlernzeit, diese dürfe nicht nur wenige Monate betragen.
Der Beurteilung des Berufungsgerichts, dass die Tätigkeit eines Lkw-Fahrers ohne Be- und Entladetätigkeiten in der Baubranche jedenfalls berufsschutzerhaltend sei, widerspricht der OGH. Es stehe nicht fest, inwiefern der Berufskraftfahrer dabei sein berufliches Wissen verwerten kann.
Es sei auch nicht klar, nach welcher Einschulungszeit ein ungelernter Arbeiter diese Tätigkeit verrichten könnte. Laut der Tätigkeitsbeschreibung im berufskundlichen Sachverständigengutachten nähere sich diese Tätigkeit darüber hinaus jener eines bloßen Zustellers von Baumaterialien an.
Die derzeitige Sachverhaltsgrundlage reiche damit nicht aus, um die Frage definitiv zu beantworten, ob die festgestellten artverwandten Tätigkeiten berufsschutzerhaltend sind. Die Klage könne ohne vorherige Prüfung des Berufsschutzes nicht abgewiesen werden, so der OGH.
Daher sei die Aufhebung des Berufungsurteils unumgänglich. Im fortgesetzten Verfahren sei zuerst zu prüfen, ob der Kläger durch seine Arbeit bei der Müllabfuhr seinen Berufsschutz erhalten oder ihn verloren hat.
Sollte der Kläger weiterhin Berufsschutz genießen, stelle sich anschließend die Frage, ob dieser auch durch die ihm zumutbaren Tätigkeiten erhalten bleibt. Der OGH hob das Urteil des Berufungsgerichts auf und verwies die Rechtssache an dieses zurück.
Die OGH-Entscheidung 10ObS58/23m vom 28. September 2023 ist im Rechtsinformationssystem des Bundes im vollen Wortlaut abrufbar.
Ihre Leserbriefe können für andere Leser eine wesentliche Ergänzung zu unserer Berichterstattung sein. Bitte schreiben Sie Ihre Kommentare unter den Artikel in das dafür vorgesehene Eingabefeld.
Die Redaktion freut sich auch über Hintergrund- und Insiderinformationen, wenn sie nicht zur Veröffentlichung unter dem Namen des Informanten bestimmt ist. Wir sichern unseren Lesern absolute Vertraulichkeit zu! Schreiben Sie bitte an redaktion@versicherungsjournal.at.
Allgemeine Pressemitteilungen erbitten wir an meldungen@versicherungsjournal.at.
Der VersicherungsJournal Newsletter informiert Sie von montags - freitags über alle wichtigen Themen der Branche.
Ihre Vorteile