12.9.2025 – Der Oberste Gerichtshof entschied: Wer für nachfolgende Fahrzeuge eine unklare Verkehrssituation schafft, ist zu einem weiteren Kontrollblick verpflichtet. Weil er sich von einem anderen Fahrzeug überholen hatte lassen, hat der VW-Fahrer eine solche unklare Situation geschaffen, es trifft ihn ein Mitverschulden an der Kollision. Das Fehlverhalten des Ferrari-Fahrers, der seinen Überholvorgang hätte abbrechen können, sei aber wesentlich schwerwiegender.
Im Juli 2022 wollte der Fahrer eines VW Tiguan von einer Bundesstraße außerhalb des Ortsgebietes nach links in eine Straße abbiegen. Diese weist einen mehr als 15 Meter breiten Einmündungstrichter auf, außerdem gibt es einen gut sichtbaren Wegweiser.
Der VW-Fahrer war zuerst mit rund 70 km/h unterwegs, reduzierte seine Geschwindigkeit dann 150 Meter vor der Abzweigung, setzte den linken Blinker und ordnete sein Fahrzeug in Richtung der Fahrbahnmitte ein.
Gleichzeitig sah er in den Rückspiegel und machte einen Schulterblick. Zu diesem Zeitpunkt befand sich kein Fahrzeug der Kolonne in Überholposition. Zuletzt fuhr der VW-Fahrer nur noch mit etwa 20 km/h.
Für die Lenker der nachfolgenden Fahrzeuge war dieses Verhalten auffällig. Der Fahrer eines anderen Fahrzeugs scherte aus der Kolonne aus, hupte den VW-Fahrer an und überholte ihn. Kurz danach begann der VW-Fahrer ohne einen weiteren Schulterblick mit dem Linksabbiegevorgang.
Der Lenker eines Ferrari, der ebenfalls in der Kolonne gefahren war, setzte ebenfalls zum Überholen des VW an, wobei die für einen gefahrlosen Überholvorgang erforderlichen Tiefenabstände zu diesem Zeitpunkt nicht vorhanden waren. Es kam zur Kollision.
Der Ferrari-Fahrer hätte den Überholvorgang rechtzeitig abbrechen und den Unfall vermeiden können. Auch der VW-Fahrer hätte bei einem zweiten Schulterblick den Zusammenstoß verhindern können.
In einer Klage fordert der Kaskoversicherer des Ferrari Reparaturkosten in Höhe von mehr als 70.000 Euro. Er steht auf dem Standpunkt, den VW-Fahrer treffe das Alleinverschulden, da dieser unter Außerachtlassung der gebotenen Sorgfalt nach links abgebogen sei.
Der VW-Fahrer und sein ebenfalls beklagter Haftpflichtversicherer wenden ein, der Ferrari-Fahrer habe ein unzulässiges Überholmanöver durchgeführt und trotz unklarer Verkehrssituation nicht abgebrochen. Der VW-Fahrer habe das Linksabbiegemanöver ordnungsgemäß durchgeführt.
Erst- und Berufungsgericht wiesen die Klage ab. Das Alleinverschulden treffe den Ferrari-Fahrer, dass der VW-Fahrer unmittelbar vor dem Linksabbiegen von einem dritten Fahrzeug überholt wurde, habe ihn nicht zu einem weiteren Kontrollblick verpflichtet.
Der Kaskoversicherer des Ferrari wandte sich daraufhin in einer Revision an den Obersten Gerichtshof; er gesteht die Notwendigkeit des Abbruchs des Überholvorgangs zu, sieht aber ein gleichteiliges Mitverschulden des VW-Fahrers.
Einleitend geht der OGH auf das Überholverbot nach § 16 Absatz 1 lit a StVO ein. Demnach darf nicht überholt werden, „wenn andere Straßenbenützer, insbesondere entgegenkommende, gefährdet oder behindert werden könnten oder wenn nicht genügend Platz für ein gefahrloses Überholen vorhanden ist“.
Mehrere hintereinander fahrende Fahrzeuge dürfen nur dann überholt werden, wenn der Lenker erkennen kann, dass er sein Fahrzeug ohne Gefährdung oder Behinderung anderer wieder einordnen kann, betont der OGH. Er dürfe dabei andere Verkehrsteilnehmer nicht zum Bremsen oder Ablenken nötigen.
Wenn ein Fahrzeuglenker auf der Überholstrecke ein Hindernis oder die Möglichkeit einer Gefährdung erkennt, müsse er den Überholvorgang abbrechen und sich wieder hinter das vor ihm fahrende Fahrzeug einreihen.
Im vorliegenden Fall konnte zwar nicht festgestellt werden, ob der Ferrari-Fahrer ein unzulässiges Überholmanöver eingeleitet hat. Es könne ihm aber das Unterlassen des Abbruchs des Überholmanövers vorgeworfen werden.
Grundsätzlich dürfe ein Fahrzeuglenker, der seine Absicht, nach links abzubiegen, rechtzeitig angezeigt und sich davon überzeugt hat, dass niemand zum Überholen angesetzt hat, darauf vertrauen, dass ein nachfolgender Fahrzeuglenker sich vorschriftsmäßig verhalten und ihn rechts überholen werde.
Das gelte allerdings nicht, wenn besondere Gründe den Linksabbieger eine Gefahr erkennen lassen, so der OGH. Ein weiterer Kontrollblick sei unter anderem dann nötig, wenn der Lenker eine unklare Verkehrslage für den Nachfolgeverkehr schafft.
Eine solche unklare Verkehrslage liege nach der bisherigen Rechtsprechung beispielsweise dann vor, wenn der Lenker zwar seine Absicht, nach links einzubiegen, rechtzeitig und ordnungsgemäß anzeigte, sich aber vor dem Einbiegen von zwei oder mehreren nachkommenden Pkw links überholen ließ.
Im vorliegenden Fall habe der VW-Fahrer „in Annäherung an die Unfallstelle eine ganz erhebliche Geschwindigkeitsverminderung“ vorgenommen und sei im Zug des relativ lange dauernden Abbiegemanövers von einem anderen Pkw links überholt worden, erläutert der OGH.
Dieses Überholmanöver und der durch das Betätigen der Hupe ausgedrückte Unmut des Lenkers des Drittfahrzeugs hätte dem VW-Fahrer das Vorliegen einer für den Nachfolgeverkehr unklaren Verkehrssituation nahe legen müssen.
Er wäre daher zu einem weiteren Kontrollblick unmittelbar vor dem Linksabbiegen verpflichtet gewesen, vor allem, weil der erste Kontrollblick zu diesem Zeitpunkt bereits mehr als sieben Sekunden zurücklag. Dass er nur von einem Fahrzeug überholt wurde, sei nicht relevant.
Den VW-Fahrer treffe daher ebenfalls ein Verschulden an diesem Unfall, so der OGH. Allerdings sei das Fehlverhalten des Ferrari-Fahrers, der trotz der auffällig langsamer werdenden Fahrzeugkolonne von seinem Überholmanöver nicht Abstand nahm, wesentlich stärker zu gewichten.
Eine Verschuldensteilung von 1 : 3 zu Lasten des Ferrari-Fahrers sei gerechtfertigt. Die Revision des Kaskoversicherers des Ferrari erwies sich damit als berechtigt und hatte teilweise Erfolg.
Die OGH-Entscheidung 2Ob75/25f vom 26. Juni 2025 ist im Rechtsinformationssystem des Bundes im vollen Wortlaut abrufbar.
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