15.11.2023 – Ein Zahnarzt hat die Behandlung nicht lege artis durchgeführt, zwei Jahre später hat er Insolvenz angemeldet. Eine Patientin klagt den Insolvenzverwalter, ihr stehe ein Absonderungsrecht am Deckungsanspruch des Zahnarztes gegen seinen Haftpflichtversicherer zu. Der OGH entschied: Absonderungsansprüche setzen das Vorhandensein einer Sondermasse voraus, es müsse also zuerst geklärt werden, ob der Versicherer überhaupt leistungspflichtig ist.
Im Jahr 2017 hat ein Zahnarzt bei einer Patientin ein Goldinlay gesetzt, ohne die vorhandene Karies zu entfernen. Auf einem ein halbes Jahr später angefertigten Röntgenbild war zu erkennen, dass die Karies weiter fortschritt, der Arzt reagierte darauf nicht. Der Zahn musste später gezogen werden.
Bei zwei weiteren Zähnen war bei der Patientin ein Eiterherd vorhanden, dennoch hat der Zahnarzt gemeinsam mit seinem Bruder ein Sofortimplantat eingesetzt. Dadurch wurde auch der Nebenzahn so geschädigt, dass er nicht erhalten werden konnte, zusätzlich war ein Knochenaufbau nötig.
Beide Behandlungen erfolgten nicht „lege artis“. Der Bruder des Zahnarztes war zwar ebenfalls ausgebildeter Zahnarzt, aber nicht berechtigt, als selbständiger Zahnarzt zu handeln. Über das Vermögen des Zahnarztes wurde im Mai 2019 ein Insolvenzverfahren eröffnet.
Der Zahnarzt hatte einen Haftpflichtversicherungsvertrag abgeschlossen, dem die Allgemeinen und die Ergänzenden Allgemeinen Bedingungen für die Haftpflichtversicherung (AHVB sowie EHVB) sowie die Besondere Vereinbarung zur Ärztehaftpflichtversicherung zugrunde lagen.
Nicht versichert waren nach Artikel 7.2 der AHVB Schadenersatzverpflichtungen von Personen, die den Schaden, für den sie von Dritten verantwortlich gemacht werden, rechtswidrig und vorsätzlich herbeigeführt haben.
Dem Vorsatz gleichgehalten war eine Handlung oder Unterlassung, bei der der Schadenseintritt wahrscheinlich war und in Kauf genommen wurde. Ebenso war die Kenntnis der Mangelhaftigkeit oder Schädlichkeit von geleisteten Arbeiten dem Vorsatz gleichzuhalten.
Außerdem sollte der Versicherer aufgrund der EHVB leistungsfrei sein, wenn der Versicherungsfall grob fahrlässig herbeigeführt wurde und dabei bewusst, insbesondere wegen einer kosten- oder zweitsparenden Arbeitsweise, gegen Gesetze, Verordnungen oder behördliche Vorschriften verstoßen wurde.
In einer Klage gegen den Insolvenzverwalter fordert die Patientin (zuletzt) 9.305 Euro Schadenersatz und Sanierungskosten bei Exekution in den Deckungsanspruch gegen den Haftpflichtversicherer des Zahnarztes sowie Feststellung der Haftung für sämtliche künftigen Schäden aus der Fehlbehandlung.
Sie argumentiert, ihr stehe ein Absonderungsrecht nach § 157 VersVG am Deckungsanspruch des Zahnarztes gegen seinen Haftpflichtversicherer zu. Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit würden nicht vorliegen, der Arzt habe nur nicht mit der Sorgfalt eines Durchschnittszahnarztes gehandelt.
Der Versicherer könne sich nicht auf Leistungsfreiheit berufen, da es sich um eine Pflichthaftpflichtversicherung handle. Die Risikoausschlüsse würden den Versicherungsschutz aushöhlen und den vom Gesetzgeber vorgesehenen Schutz des Dritten untergraben.
Dem Zahnarzt seien darüber hinaus auch Behandlungsfehler seines Bruders zuzurechnen, der als sein Erfüllungsgehilfe tätig geworden sei.
Der beklagte Insolvenzverwalter beantragte Klagsabweisung. Das Absonderungsrecht setze einen Haftpflichtversicherungsschutz für entstandene Schäden voraus, der Haftpflichtversicherer habe aber die Ansprüche abgelehnt.
Der Haftpflichtversicherer erklärte dazu, dass die Versicherungsbedingungen nicht gegen gesetzliche Regelungen verstoßen. Auch in der Pflichtversicherung seien Risikobeschränkungen und Risikoausschlüsse zulässig.
Der Zahnarzt habe im vorliegenden Fall die Mangelhaftigkeit und Schädlichkeit seiner Leistungen gekannt, was sich aus den systematischen Fehlbehandlungen zahlreicher Patienten ergebe. Der Versicherungsfall sei grob fahrlässig herbeigeführt worden.
Der Bruder des Zahnarztes habe als selbständiger Zahnarzt gehandelt, ohne dazu berechtigt gewesen zu sein. Beide hätten gegen geltende Gesetze, Verordnungen und behördliche Vorschriften verstoßen.
Im bereits zweiten Rechtsgang hatte das Erstgericht die Klage zur Gänze abgewiesen. Für das Bestehen eines Absonderungsanspruchs sei es notwendig, dass die geltend gemachten Schadenersatzansprüche vom Versicherungsschutz umfasst seien.
Im vorliegenden Fall habe es der Zahnarzt für möglich gehalten und sich damit abgefunden, dass die Behandlung der Zähne nicht lege artis erfolgt und mit weiteren Schäden und Schmerzen für die Patientin verbunden sei; daher liege Leistungsfreiheit des Versicherers vor.
Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung. Die Risikoausschlüsse seien zulässig; sie würden den von der Pflichthaftpflichtversicherung geforderten Schutz des Dritten nicht entscheidend untergraben und auch nicht gegen § 26c Zahnärztegesetz verstoßen.
Der Zahnarzt habe mit seinen grob kunstwidrigen Behandlungen bewusst gegen die Regeln der ärztlichen Kunst verstoßen, so das Berufungsgericht. Außerdem habe er auch Kenntnis über die Mangelhaftigkeit oder Schädlichkeit seines Verhaltens gehabt.
Gegen das Urteil des Berufungsgerichts wandte sich die Patientin in einer Revision mit einem Abänderungsantrag sowie hilfsweise einem Aufhebungsantrag an den Obersten Gerichtshof.
Dieser betont in seiner rechtlichen Beurteilung, dass dem Geschädigten in der Haftpflichtversicherung ausdrücklich besonderer Schutz zukomme. So seien Verfügungen des Versicherungsnehmers über die Entschädigungsforderung aus dem Versicherungsverhältnis unwirksam.
Auch der exekutive Zugriff durch andere Gläubiger des Versicherungsnehmers auf die Forderung sei gegenüber dem Geschädigten wirkungslos. Und schließlich diene der Anspruch selbst im Insolvenzverfahren des Versicherungsnehmers primär der Befriedigung des Geschädigten.
Bei einer Insolvenz des Versicherungsnehmers könne der Dritte wegen des ihm zustehenden Anspruchs abgesonderte Befriedigung aus der Entschädigungsforderung des Versicherungsnehmers verlangen. Der Deckungsanspruch sei ein Sondervermögen und falle nicht in die Insolvenzmasse.
Für das Bestehen eines behaupteten Absonderungsanspruchs des Geschädigten sei es zuerst entscheidend, dass die geltend gemachten Schadenersatzansprüche vom Versicherungsverhältnis des Schädigers und seiner Haftpflichtversicherung umfasst sind.
Beim Absonderungsanspruch des § 157 VersVG gehe es aber nicht um einen reinen Haftpflichtprozess. Der Geschädigte mache vielmehr ein behauptetes Absonderungsrecht geltend, das einen Anspruch auf eine Befriedigung aus bestimmten Vermögenswerten des Schuldners beinhalte.
Wenn diese Sondermasse nicht vorhanden ist, komme eine vorrangige Befriedigung daraus auch nicht infrage. Daher sei bei der Prüfung des geltend gemachten Absonderungsanspruchs auch die Beurteilung des Bestehens der Sondermasse nötig.
In der obligatorischen Haftpflichtversicherung genieße der Geschädigte zusätzlichen Schutz, so der OGH. Nach § 158c VersVG sei der Versicherer im Rahmen des versicherten Risikos gegenüber dem Geschädigten auch dann haftpflichtig, wenn er gegenüber dem Versicherungsnehmer leistungsfrei ist.
Allerdings hafte der Versicherer immer nur im Rahmen der von ihm übernommenen Gefahr. Zulässig vereinbarte Ausschlüsse würden auch gegenüber dem Dritten gelten, dieser könne sich dabei nicht auf § 158c VersVG berufen.
Die Grenze von Risikoausschlüssen würden dabei in der Umgehung der gesetzlichen Intention einer Pflichthaftpflichtversicherung liegen. Risikobeschränkungen und -ausschlüsse seien zwar grundsätzlich möglich, dürften aber den Schutz des Dritten nicht entscheidend untergraben.
Es sei nicht die Aufgabe eines Versicherers, vorsätzliches oder diesem gleichgestelltes Verhalten des Versicherungsnehmers zu decken, betont der OGH. Daher würden die genannten Risikoausschlüsse auch nicht die Intention der Pflichthaftpflichtversicherung umgehen.
Allerdings sei das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass die kunstwidrige Behandlung des Zahnarztes die in den Versicherungsbedingungen normierten Risikoausschlüsse verwirklichen würden.
In Artikel 7.2 der AVHB werde aber gefordert, dass der Versicherungsnehmer den schädigenden Erfolg seines Verhaltens vorhersehen und ihn zumindest billigend in Kauf nehmen muss. Nur aufgrund einer kunstwidrig erfolgten Behandlung müsse noch kein Risikoausschluss vorliegen.
Es seien aber keine Tatsachenfeststellungen dazu getroffen worden, ob der Zahnarzt die Mangelhaftigkeit oder Schädlichkeit der geleisteten Arbeit gekannt hat und ob er bewusst gegen Gesetze, Verordnungen oder behördliche Vorschriften zuwidergehandelt hat.
Mit der Tatsachenrüge zu den diesbezüglichen, entscheidungswesentlichen Feststellungen des Erstgerichts habe sich das Berufungsgericht nicht auseinandergesetzt. Das Urteil müsse daher aufgehoben und zur neuerlichen Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden.
Die Revision erwies sich damit im Sinne des Aufhebungsantrags als berechtigt.
Die OGH-Entscheidung 17Ob15/23i vom 25. September 2023 ist im Rechtsinformationssystem des Bundes im vollen Wortlaut abrufbar.
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