27.11.2025 – Wechselseitige mathematische Herausforderungen, Beweisen und Widerlegen: Das kann Spaß machen. In der Versicherungsmathematik gibt es allerdings selten ein eindeutiges „Wahr“ oder „Falsch“. Und das auch zu Recht. – Von Versicherungsmathematiker Christoph Krischanitz.
Erstaunlich, wie viele Menschen das von sich sagen. Dabei kann ich das nicht glauben. Natürlich hat jeder Mensch unterschiedliche Begabungen, Stärken und Schwächen, aber zu Mathematik braucht man nicht so viel.
Es sind eigentlich zwei Eigenschaften, die zur Mathematik befähigen:
Die Literatur ist voll von Anekdoten über Mathematiker und Physiker, die sich gegenseitig herausgefordert und sekkiert (in fernen Ländern sagt man auch „geneckt“ dazu) haben.
1959 hatten drei Mathematiker eine Vermutung von Euler widerlegt, die 180 Jahre Bestand hatte – und wurden daraufhin von der New York Times als Euler’s Spielverderber („Euler’s spoilers“) tituliert. Quasi, Ätschi-bätschi.
Johann Bernoulli wollte die führenden Mathematiker Europas herausfordern, indem er ihnen ein Problem stellte, für das sie sechs Monate Zeit zur Lösung hatten.
Isaac Newton hat davon sehr spät erfahren und das Problem trotz Übermüdung in einer Nacht gelöst. Obwohl er die Lösung nicht mit seinem Namen versehen hatte, erkannte Bernoulli den Verfasser sofort und rief aus „Tanquam ex ungue leonem“ – „Ich erkenne den Löwen an seiner Klaue.“
Newton kommentierte das später so: „I do not love to be dunned and teased by foreigners about mathematical things.“ („Ich mag es nicht, von Ausländern wegen mathematischer Dinge bedrängt und geneckt zu werden“.)
Die lustvollen Kommentare des Physikers Wolfgang Pauli wurden auch legendär, wenn er wieder einmal zu einer schlecht verfassten Arbeit enttäuscht sagte: „Das ist nicht einmal falsch.“

Natürlich macht auch das Beweisen Spaß, aber meist nur, wenn es sich um eigene Vermutungen handelt.
Überliefert ist die Anekdote von Godfrey Harold Hardy, der über seinen Freund Bertrand Russell sagte: Wenn er einen Beweis finden könne, dass Russell in fünf Minuten sterben werde, wäre er natürlich traurig, seinen Freund zu verlieren – aber diese Trauer würde deutlich von der Freude über den Beweis überwogen.
Russell hatte volles Verständnis für diese Aussage und war auch nicht beleidigt.
So weit die Psyche der Mathematik. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass die Lust am Widerlegen in einer Partnerschaft kaum ans Ziel führt. Dem kurzen grellen Lichtschein des Vergnügens folgt dann meist eine längere Periode der Dunkelheit.
Auch in Verkaufsgesprächen mit potenziellen Kunden ist das „Aufblatteln“ des Gegenübers nicht immer die erfolgreichste Strategie. Aber wir wollen ja nur spielen …
In der Versicherungsmathematik ist das sowieso anders. Dort gibt es selten ein eindeutiges „Wahr“ oder „Falsch“, eher ein „das kommt darauf an“. Und zu Recht, denn hier geht es um Daten und ihre Interpretation. Und schließlich haben wir es mit Wahrscheinlichkeitstheorie zu tun.
Laien haben ja die Vorstellung, dass etwas mit Wahrscheinlichkeit 1 (oder 100 %) „sicher“ eintritt. Denkste!
Wir Mathematiker haben dafür einen anderen Begriff: „fast sicher“!
Es kann ja Ereignisse geben, die wir noch nicht beobachtet haben, oder die wir nicht messen können, wir sprechen da von „Nullmengen“. „Fast sicher“ bedeutet also: „Sicher, bis auf eine Nullmenge.“
Was könnte das sein? Nun, denken Sie doch beim Würfeln an die physikalisch mögliche Situation, dass der Würfel auf der Kante stehen bleibt. Soll auch schon mal passiert sein, kommt aber zu selten vor, als dass man es mit einer Wahrscheinlichkeit messen könnte. Daher können wir nicht sicher sein.
In der jüngsten Historie haben wir tatsächlich solche Nullmengen erlebt. Der Flugzeugeinschlag ins World Trade Center 2001 war ein Szenario fern jeglicher Vorstellungskraft und daher Teil einer Nullmenge.
Naturkatastrophen haben das Potenzial, Horrorszenarien zu erzeugen, die auf Basis der vorhandenen Statistiken keine Wahrscheinlichkeit haben. Diese wären nicht nur nicht versicherbar, sondern tatsächlich verheerend. Die Nicht-Versicherbarkeit beginnt allerdings schon viel früher.
Auf dieser Basis ist Widerlegung in rein mathematischem Sinn nicht möglich, was Zynikern immer wieder Stoff zum weiteren Zynisieren gibt.
Als Versicherungsmathematiker müssen wir uns begrifflich daher auf „faktische“ oder richtigerweise gesagt statistische Widerlegbarkeit beschränken, eng verknüpft mit der Begrifflichkeit der Signifikanz.
Das heißt aber nicht, dass Sie (also Sie und nicht sie, die Versicherungsmathematiker) alles richtig machen. Soll ich es Ihnen beweisen?
Christoph Krischanitz
Der Autor ist Versicherungsmathematiker (profi-aktuar.at) und verfügt über langjährige Erfahrung in der aktuariellen Beratung. Krischanitz war von 2004 bis 2019 Vorsitzender des Mathematisch-Statistischen Komitees im Versicherungsverband (VVO), von 2008 bis 2014 Präsident der Aktuarvereinigung Österreichs (AVÖ). Derzeit ist er unter anderem Chairman der Arbeitsgruppe Non-Life Insurance in der Actuarial Association of Europe (AAE).
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