11.7.2025 – Das Würfelspiel wurde schließlich zu einem großen Wurf: Geralomo Cardano legte im 16. Jahrhundert den Grundstein für jene Mathematik, auf deren Basis heute Betrugserkennung fußt, KI betrieben wird und Aktuare das Pricing angehen. – Von Versicherungsmathematiker Christoph Krischanitz.
Ist Ihr Nachbar ein Terrorist (galanterweise verzichte ich hier auf das Gendern)? Ist die Schadenmeldung „gefaked“ (seit wann gibt es eigentlich dieses Wort?)? Und ist dieses E-Mail vertrauenswürdig oder nicht?
Schöne Fragen sind das nicht, aber wir müssen uns solche und ähnliche Fragen wohl immer öfter stellen. Und um diese Fragen auch zu beantworten, braucht es tatsächlich Mathematik, „aber vom Feinsten“.
Begonnen hat die Entwicklung der dafür notwendigen Mathematik, wie so oft, beim Würfelspiel.
Geralomo Cardano (auch genannt Geronimo, und nein, er war nicht der Häuptling der Apachen) lebte im 16. Jahrhundert in Mailand und finanzierte sich sein Medizinstudium mit Spielen aller Art, nachdem sein Vater früh verstorben war.
Dadurch geriet er auch immer wieder in finanzielle Schwierigkeiten, denen wir heute die Entwicklung einer fundierten Wahrscheinlichkeitstheorie verdanken.
Eines seiner über 100 Bücher, die er geschrieben hat, widmete sich dem Glücksspiel (Liber de Ludo Aleae), indem er lange vor Pascal die Grundlagen für die Wahrscheinlichkeitstheorie legte.
Ein großer Teil in diesem Werk beschäftigte sich aber neben den Berechnungen nützlicher Wahrscheinlichkeiten auch mit Betrug beim Glücksspiel, den er doch als einen wesentlichen Faktor in der Gewinnstrategie betrachtete.
So schreibt er gleich zu Beginn in seinem Buch: „Im Allgemeinen ist das Spiel nichts anderes als Betrug, Zahl und Glück.“ Seinem jähzornigen Charakter entsprechend soll er mit Falschspielern auch durchaus handgreiflich verfahren sein.
Er begriff jedenfalls, dass sich durch Zinken der Würfel die Wahrscheinlichkeiten zu Gunsten oder Ungunsten gewisser Wurfergebnisse verändern lassen.
Cardano machte also klar, dass seine Berechnungen nur dann gelten, wenn es bei dem Spiel fair zugeht. Unter der Annahme eines betrügerischen Mitspielers müssten die Wahrscheinlichkeiten nach oben oder unten angepasst werden. Heute spricht man von bedingten Wahrscheinlichkeiten.
Er stellte sich daraufhin die Frage, ob man Betrug erkennen kann. Ist es möglich, nur aufgrund der Ergebnisse des Würfelns auf gezinkte Würfel rückzuschließen?
Früher sprach man von „inversen Wahrscheinlichkeiten“, heute ist das ein Teil der Statistik, der Bayes-Statistik genannt wird, wie ich gleich erörtern werde.
Es hat ein paar Jahrzehnte gedauert, bis der französische Mathematiker Laplace folgendes Gesetz formulierte, das die Grundlage für das berühmte „Bayes-Theorem“ liefern sollte:
Wenn man aufgrund der Würfelergebnisse die Wahrscheinlichkeit wissen möchte, dass der Würfel gezinkt ist, muss man zwei voneinander unabhängige Wahrscheinlichkeiten heranziehen. Erstens die Wahrscheinlichkeiten für das Würfelergebnis mit dem gezinkten Würfel und zweitens die allgemeine Wahrscheinlichkeit, dass der Würfel gezinkt sein kann.
Die Wahrscheinlichkeit für die Hypothese, der Würfel wäre gezinkt, muss dann proportional sein der Wahrscheinlichkeit des Würfelergebnisses mit gezinktem Würfel mal der Wahrscheinlichkeit, dass der Würfel überhaupt gezinkt sein kann.
Nehmen wir an, Sie spielen mit einem Freund Würfelpoker und er würfelt dreimal einen Sechser hintereinander. Die Wahrscheinlichkeit für dieses Ergebnis ist ein Sechstel mal einem Sechstel mal einem Sechstel also 1 durch 216 oder 0,0046.
Wäre der Würfel so gezinkt, dass er den Sechser mit einer Wahrscheinlichkeit von einem Drittel erwürfelte, so wäre die Wahrscheinlichkeit für drei Sechser 1 durch 27, also 0,037. Das wäre also deutlich wahrscheinlicher.
Nun muss aber noch der Umstand bewertet werden, ob Ihr Freund sie tatsächlich betrügen könnte. Naja, sagen wir in eins zu hundert Fällen mag das schon vorkommen. Die Wahrscheinlichkeit betrogen zu haben aufgrund des Wurfergebnisses von drei Sechsern ist dann die oben berechnete Wahrscheinlichkeit von 0,037 (drei Sechser mit dem Zink-Würfel) mal einem Hundertstel (die Wahrscheinlichkeit, dass Ihr Freund betrügt), also 0,00037.
Die Wahrscheinlichkeit, dass die drei Sechser korrekt zustande gekommen sind, ist dann das Produkt aus den oben berechneten 1 durch 216 und 99 Hundertstel, also 0,0045. Durch die hohe Ehrlichkeit Ihres Freundes können Sie den Betrug also ausschließen.
Wenn Sie mir so weit gefolgt sind, ist Ihnen sicher aufgefallen, dass wir da ziemlich improvisieren mussten.
Erstens brauchten wir eine exakte Hypothese über die Art des gezinkten Würfels und zweitens war eine Information über den Ehrlichkeitsgrad des Freundes notwendig. Beide Informationen sind voneinander gänzlich unabhängig und kommen aus ganz unterschiedlichen Quellen.
Obwohl an der (by the way wunderschönen) Formel selbst wenig auszusetzen ist, ist in diesem Beispiel ein hohes Maß an Subjektivität nötig, um überhaupt Zahlenwerte ansetzen zu können.
Deshalb stand die Bayes‘sche Statistik auch lange Zeit in der wissenschaftlichen Kritik, bis Ende des zwanzigsten Jahrhunderts die Möglichkeit der praktischen Anwendung alle Kritiker verstummen ließ.
Aktuare nutzen Bayes fürs Pricing, Cyber-Risiken werden mittels Bayes-Netzen modelliert, die ganze Netzwerk-Mathematik, inklusive künstlicher Intelligenz kommt ohne Bayes nicht mehr aus und Fraud-Detection ist auch mittlerweile Standard.
Und um die Frage zu klären, ob Ihr Nachbar ein Terrorist ist, können Sie es mit den Medizinern halten: „Wenn Sie Hufgetrappel hören, denken Sie an Pferde, nicht an Zebras“ – mit großer Wahrscheinlichkeit also „Nein“!
Christoph Krischanitz
Der Autor ist Versicherungsmathematiker (profi-aktuar.at) und verfügt über langjährige Erfahrung in der aktuariellen Beratung. Krischanitz war von 2004 bis 2019 Vorsitzender des Mathematisch-Statistischen Komitees im Versicherungsverband (VVO), von 2008 bis 2014 Präsident der Aktuarvereinigung Österreichs (AVÖ). Derzeit ist er unter anderem Chairman der Arbeitsgruppe Non-Life Insurance in der Actuarial Association of Europe (AAE).
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